Rezensionen zu SELFME

SELFME! Oder: Die Suche nach der Wahrheit im Bild

von Prof. Dr. Martin Gessmann
Professor für Kultur- und Technik­theorien und Ästhetik an der Hoch­schule für Gestaltung in Offenbach am Main

 

Vermutlich geht es einem jedem Besucher so, der die SELFME-Aus­stel­lung gesehen hat und sich dann fragt, welches denn die bes­ten waren. Anders als nach jeder ‚echten’ Kunst­aus­stel­lung wird man gerade nicht jene nennen, die am gekonn­testen gezeichnet sind und die beste Künstler­hand verraten, auf langes Training schlie­ßen lassen und der Deutung reichlich Futter zur intel­lek­tu­ellen Durch­dringung bieten.

Es sind vielmehr gerade jene, die beinahe linkisch erscheinen, für die sich jeder ‚Künstler’ eher schämt und deren Urheber man wortreich überreden musste, das SELFME überhaupt zur Verfügung zu stellen. Denn gerade bei jenen Zeichnungen und Ausmalungen, die uns fast kindlich erscheinen und in jedem Strich zu spüren ist, dass der Zeichner sich seines Un­vermögens schmerzhaft bewusst ist – so hilflos erscheint der Ver­such, etwas zustande zu bringen, was auch nur entfernt in die Kate­gorie Portrait passt – gerade dort bemer­ken wir, dass es uns auf ei­gentümliche Weise berührt, was wir sehen.

Man geht wieder zurück, schaut das Bild noch einmal an, schmun­zelt, faltet die Stirn, je nachdem, wie groß der Abstand zwischen Anspruch und Wirk­lich­keit der Darstellung ist, wie kindlich und naiv die Züge erschei­nen und wie fern davon das Er­wach­senen­leben ist, das wir uns aus den Begleit­tex­ten erschließen. Und seltsa­mer Weise ist es eben gerade die ge­fühlte Distanz zwi­schen dem ge­zeich­neten Selbst und den Le­bens­um­stän­den, die wir im Hin­tergrund erahnen, die unseren SELFMEs eine ganz eigene An­zie­hungs­kraft verleiht. Das schick gezeichnete Selbstbild, souverän und mit wenigen, gekonnten Strichen mühelos hingeworfen, erscheint dagegen machtlos. Man sieht nur, was man sich schon denken konnte – und offenbar auch denken sollte. Die gezeich­ne­ten Züge verdecken dann all das schon wieder, was die hilflos er­schei­nen­den SELFMEs verraten, ob sie es wollen oder nicht.

I.
Die schlechtesten Zeichnungen sind die besten. Wie aber kann das sein? Vermutlich wird man sich überhaupt damit schwertun, mit den SELFMEs einen tiefer­ge­hen­den Anspruch zu verbinden – scheinen sie doch nicht so weit weg von Gelegen­heits­zeich­nun­gen, die wir in eher langweiligen Sitzungen vor uns hin­krit­zeln und leichter Hand in den Papierkorb werfen; oder von den Produkten eines schulischen Kunst­unter­richts, in dem wir – gegen die ei­gene und bessere Einsicht in un­se­re zeichne­rischen Fähigkeiten – dennoch gezwungen waren, uns einmal selbst darzustellen. Erst recht erscheint die Abkunft und damit Verwandt­schaft zu den Selfies belastend. Ist sich doch die Kultur­kritik fast ausnahmslos einig darüber, dass die Selfies nur als eine Form jugendlicher Verirrung verstanden werden können, die nun unseliger Weise auch noch von Älteren kopiert wird.

Aber schon bei der Pauschalkritik unserer Feuilletons lohnt es sich, einmal genauer hinzusehen und nachzufragen. Die Gründe für eine kritische Haltung gegenüber Sel­fies sind schnell benannt. Es ist zum einen die Vorstellung, Medien seien zuletzt dazu da, uns zu ver­füh­ren. Es ist eine typische Sicht des 20. Jahrhunderts, als Radio, Fernsehen und zuletzt das Mobil­telefon auf die neuen Nutzer eine eigenartige Fas­zi­nation ausübten. Man konnte einfach nicht davon lassen, weil das neue Medium, so will es die Theorie, uns nicht nur zur Verfügung steht, sondern uns zugleich prägt und in seinen Bann zieht. Wir meinen, alles durch die Brille des neuen technischen For­mats hindurch sehen und wahr­neh­men zu müs­sen. Es wurde nur der wirklich geschätzt, der in einem Mas­sen­medium irgend­wie präsent war. Und nur kam seinen Freunden und Bekannten wirklich nahe, der auch auf dem Handy angerufen werden konnte oder per SMS benach­richtigt. Die Bilder von jungen Menschen, die neben­einander im Café sitzen und sich Bot­schaf­ten zu­simsen, haben den Eindruck der Kritik nach­haltig verstärkt.

Aber nicht nur nehmen wir unsere Umwelt und die Menschen darin durch den Filter der Medien wahr, dasselbe gilt im Sinne der Kritik auch für uns selbst. Wir sehen sowieso immer nur, was wir sehen wollen, und was uns selbst betrifft, nur umso mehr. Medien wirken demnach wie eine Art Zerr- und zugleich Zauber­spie­gel, in dem wir uns ständig selbst betrachten und darauf aus sind, uns mög­lichst vor­teil­haft wahrzunehmen.

In der Sprache der Psychoanalyse sind wir demnach alle zu Nar­ziss­ten geworden, ganz besonders jene jungen Menschen, die stän­dig und überall Fotos von sich machen und diese ins Netz stellen. Am Ende einer solchen Entwick­lung gibt es dann nichts mehr in der Welt, das allein und für sich wahrgenommen wird. Auf jedem Erinnerungsfoto ist zugleich die Person zu sehen, die es gemacht hat. Die Welt wird zum bloßen Anhang der Formel, mit der einst­mals das Fotografier­ver­halten japanischer Touristen gebrand­markt wurde: ‚me and …’, was es auch ist, was zu sehen ist, es steht immer im Zusam­men­hang mit mir als Persön­lichkeit. Die Welt wird erst wirklich dadurch, dass ich mit dabei bin und also ständig und zugleich mit hin­zuge­dacht werden muss.

II.
Freilich muss schon die Bewer­tung der neuen Selfiekultur nicht so kritisch bleiben, wie sie uns bisher erscheint. Was uns so ausnahmslos negativ entge­gen­kommt, könnte auch einen posi­tiven Hinter­grund haben – zumin­dest müsste sich beim Verdacht der Oberfläch­lich­keit noch einmal nach­haken lassen. Erster Gewährs­mann für eine solche zweite Betrachtung ist Sigmund Freud, von dem die Kultur­kritik den Begriff des Narziss­mus übernom­men hat. Schon Freud sah näm­lich in dem Phä­no­men der Selbst­liebe nicht nur das Ergebnis einer mehr oder weniger krankhaften Über­heblichkeit. Es ist nicht al­lei­ne der Wunsch leit­end, an jedes Ding in der Welt sein Namens­schild zu heften und überall in der Welt immer nur sich selbst zu sehen – ganz im Sinne einer Welt­an­eignung, wie sie die Selfies nahe­legen.

Das Einver­lei­ben der Welt hat auch einen anderen, zugleich tie­feren Sinn. Nach Freud möchte das ICH an der Welt festhalten überall da, wo sie uns zu engleiten droht. Freud geht dabei von un­se­ren Erfahrungen in der Moderne aus, vor allem jenen, in denen die Dinge alle um unsere Aufmerk­samkeit buhlen – er hat vor Augen die Arbeitswelt, Ver­kehr, Werbung, Kunst und dann auch noch den ganzen Rest der Kultur. Überall drohen wir uns zu verlieren, zu schnell bewegt sich die Welt, als dass man in ihr noch an etwas wirklich fest­halten könn­te. Nar­ziss­mus ist so gesehen nur der Ver­such, sich etwas zurück­zu­ho­len, was einem im Getriebe der herr­schenden Ver­hält­nisse ab­han­den ge­kom­men ist: Nämlich die Vor­stel­lung davon, was das alles mit mir zu tun hat. Mag sein, dass der Narziss ein wenig naiv und zu sim­pel vorgeht, wenn er überall so tut, als beziehe sich Welt aus­nahms­los auf ihn. Im Kern ist sein Treiben aber legitim. Denn er versucht nur, eine ursprüngliche Einheit mit der Welt wieder­her­zu­stellen, die sich in der Hektik un­se­rer Zus­tände auf ziemlich radi­kale Weise ver­loren hat. Er fragt, wo er bleibt, und als eine Antwort erfin­det er – oder foto­gra­fiert er – eine Welt, in der er noch ganz im Mit­tel­punkt steht.

Vermutlich muss man der Sache aber noch einen weiteren Dreh geben, um zu verstehen, wie die Selfiekultur jene Ausmaße an­neh­men konnte, über die wir heute alle staunen. Für Freud waren es gekränkte und verlo­re­ne Seelen, die durch eine über­stei­gerte Ein­bildung zu neuem Selbstwert­ge­fühl finden wollten. Und so gese­hen war der Narzissmus dann nichts anderes als der Versuch, wenigstens vor sich selbst wieder angemessen dazustehen. Wem das aber nicht genügt, schon weil der Trick mit der (fotografischen) Ein­bildung zu einfach erscheint, dem muss auch noch daran ge­le­gen sein, nicht nur vor sich, son­dern auch vor Gott und der Welt besser dazustehen. Und das be­deutet, wenn man es ganz im Sinne der Erfinder der Formel nimmt, dass es nun gilt, nicht so sehr ein phantasievolles, sondern ein möglichst wahrheitsgetreues und authentisches Bild von sich zu geben.

Man kann sich den Vor­gang ganz im Sinne der christli­chen Heils­leh­re und ihrer kirchen­väter­lichen Ausdeu­tungen vor­stel­len. Eines Tages, wenn unser Erdenleben vorüber ist und die Seele vor ihrem Richter steht, gilt es zu dokumen­tieren, was man wann wo ge­macht hat. Engel zur Rechten und zur Linken von Chris­tus schla­gen das Buch unseres Lebens auf, in dem alle Stationen und Begeben­heiten dokumentiert sind. Der Herr und Richter schaut an jeder Stelle unserer Biographie auf die Figur, die wir darin ge­macht haben, oder anders gewen­det in das Gesicht, das uns zuge­hört – und be­stimmt dann, ob wir es wert sind, gerettet zu werden, oder nicht.

Unser Buch des Lebens ist der geistigen Her­kunft nach eng ver­wandt mit einem Face­book, wie wir es heute tagebuch­artig führen und mit journalis­ti­scher Akribie be­bil­dern und kom­men­tieren. Dass wir es den Freun­den und der Welt mitteilen, be­deu­tet in dem Zu­sam­men­hang nur, dass wir vor der Welt mit einem Probe­lauf be­gin­nen für das, was dann in der Stun­de des Todes vor einer höhe­ren Instanz Bestand haben muss.

III.
Hans Belting hat in seiner großen Monographie zur abendlän­di­schen Kultur des Portraits kürz­lich beklagt, die Menschen würden zuletzt hinter ihren eigenen Dar­stel­lungen verschwinden. Beson­ders die »Cyberfaces« seien von dieser Tendenz betroffen, denn die digitalen Bilder – be­son­ders nach einer anschlie­ßen­den Be­ar­bei­tung, etwa durch Photo­shop – ent­sprä­chen schon gar keinem Original mehr, das als ein Modell hinter ihnen steht. Das Antlitz des Menschen würde zur »Maske ohne Gesicht«, es gebe also niemanden mehr, auf den sie wirklich passt.

So richtig diese Feststellung an sich ist, der Furor, mit dem die (abend­ländische) Menschheit heute von sich Selfies macht, lässt sich ver­mut­lich nicht verstehen, wenn man nicht zu­gleich ein gegen­teili­ges Motiv unter­stellt. So sollte man mut­ma­ßen, dass die Ver­schö­ne­rung und zuletzt auch die Viel­zahl der Selfies noch einen anderen Zweck hat: Dient sie doch gerade dazu, jenes Selbs­tbild des Ichs wieder ein­zu­fangen, das in unse­rer digita­len Kultur so bestän­dig ab­handen zu kommen er­scheint.

Es ist ein Paradox: Eben WEIL wir uns ständig verlieren, versuchen wir mit umso mehr Verve und Ausdauer, uns ständig in allen Selbst­bildern wiederzufinden, die wir unablässig von uns machen. Je deutlicher uns in der Moment­dar­stel­lung wird, dass wir es noch nicht sind, die sich darauf wieder­finden, umso motivierter gehen wir daran, es gleich wieder zu ver­su­chen, in anderer Umgebung, anderer Begleitung, unter ande­ren Umständen.

Der Philo­soph Jacques Derrida hat es einmal so be­schrie­ben, dass wir hier einen Kampf führen, von dem wir von vornherein wissen, dass er nur verloren werden kann, ihn aber deshalb mit umso mehr, und vor allem immer mehr Inbrunst führen – den Kampf gegen den Ver­lust unserer Identität.

IV.
Der ganze Vorlauf dieser Argu­men­ta­tion will zuletzt nur auf eine einzige Pointe hinaus:
Jener, die nun die selbstgezeich­ne­ten Selfies betrifft. Denn jene Bilder sind im vor­lie­gen­den Zu­sam­men­hang nichts anderes als der Versuch, hinter der ganzen akri­bi­schen Doku­men­tat­ion unse­rer Lebens­mo­mente und -statio­nen einen Durchblick auf das wahre Selbst zu finden.

Gezeichnet wird nicht einfach nur ein weiteres Selfie, sondern das, was hinter der Maske dieser Doku­men­tation als mögliche Wahrheit auf­scheint. Es ist der Versuch, selbst zu deuten, was hinter all der Zer­streu­ung unse­res Daseins an verschie­denen Or­ten und Daten als ein Original unserer selbst vermutet werden kann.


Wenn du dich selbst sehen könn­test, jenseits aller Umtriebe, denen du tag­täg­lich folgst, wie würdest du selbst auf dich blicken? Als eine Antwort auf diese existenzielle Frage darf das SELFME angesehen werden.

Das SELFME, wie es die Künstler Schrader getauft haben, bringt zum Selfie eben jenen Aspekt hin­zu, dass es nun tatsächlich um das ICH geht, wenn man so will, das eigentliche ICH, das in den Selfies immer nur an­vi­siert, aber fataler Weise nie ge­trof­fen wird. Oder wie es der Phänomenologe Lambert Wiesing einmal zu einem Buch­titel gemacht hat: Es geht ums »Mich der Wahrneh­mung«.

Und wenn dem nun tatsächlich so ist, und das SELFME also ein Blick hinter die Maske der bloßen Sel­fies bedeuten soll, dann kann man auch das anfäng­lich auf­ge­stellte Paradox leichter nach­voll­ziehen. Die schlech­ten Zeichnungen wer­den die besten sein, einfach des­halb, weil es gar nicht mehr auf die Ähnlichkeit mit einer Foto­gra­fie ankommt, sondern umgekehrt: auf die Ähnlich­keit mit der eige­nen Exis­tenz, deren Ansicht in ganz anderen Hin­sichten gelun­gen oder miss­lungen erschei­nen kann.

Was uns im Selfme anblickt, ist zuletzt der Versuch, einmal sich selbst in die Augen zu schauen. Und ge­lun­gen ist dieser Versuch dann, wenn es uns anregt, dass auch wir schließlich einmal in uns selbst blicken. Was wir da sehen, mag dann sternenweit von jeder Ähnlichkeit entfernt sein, wie sie eine kundige Künstlerhand freund­licher­weise aufs Papier bringen würde. Kann es doch sein, dass wir es dann wie Papst Inno­zenz X. halten, als er ein Portrait Diego Verlázquez’ kommentierte, das ihn selbst auf ungewohnt ehr­liche Weise dreinblicken ließ: »è troppo vero«, es ist gar »zu wahr«.

Geteilte Freude ist die schönste Freude