KI und Digitalisierung

Digitale Erleuchtung

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BLOG / JANUAR 2020 / NR.2 / TECHNOLOGIE


In welche Paradoxie hat sich heute das Digitale verstrickt!
Kolumne von Matthias Horx
Quelle: PWCnext Vorausdenker Ausgabe 03/18 Schwerpunkt: Orakel
#Kolumne

Was Sie in diesem Beitrag erfahren:
Warum wir bei dem Begriff Digitalisierung womöglich einem »Kategorienirrtum« unter­liegen.
In welche Paradoxie sich das Digitale heute verstrickt hat.
Warum digitale Technik ins menschliche Maß zurückgeführt werden sollte.


Geht es Ihnen auch manchmal so, dass das Wort »Digitalisierung« ein Gefühl flauer Übelkeit hinter­lässt? Dass Sie das D-Wort einfach nicht mehr hören können, wie es im Ma­schinengewehrtakt auf jeder Busi­nesskonfe­renz, jeder gehypten Mes­se, in jedem Standard-Power­point-Business-Vortrag und inzwi­schen sogar auf Parteita­gen be­nutzt wird? Immer kommt es mit dem großen MUSS daher: Die Di­gitalisi­erung MUSS rasend voran­schreiten, wir MÜSSEN den Breit­bandaus­bau vorantrei­ben, künstli­che Intelligenz MUSS dem­nächst ...

Wenn dauernd etwas gemusst werden muss, ist längst etwas faul. Ähnlich wie in einer Partner­schaft, in der man sich dauernd gegen­seitig aufs Kitschig­ste die Liebe beschwören muss, GLAU­BEN wir eigentlich nicht wirklich daran. Irgend­wann wird etwas, was allzu allgemeingültig erscheint, zu einer Fassade, einem Hohl­sprech, einer ermüdenden Selbst-Propaganda.

Was bedeutet genau »Digitalisie­rung«? Das Wort starrt auf seltsa­me Weise zurück, wenn man es genauer anschaut. Es suggeriert, dass a) sich alles in Daten auflöst und dabei b) das Reale ver­schwin­det. Die Wirklich­keit. Das, worauf unser Leben basiert, die sinnliche, anfassbare, konkrete, zeitliche Welt.

»Künstliche Intelligenz ist genau das: Wir verwechseln das Künst­liche mit der Intelli­genz.«

 

Im Tunnel des Kategorienirrtums
Wenn man »Digitalisierung« in den Browser eingibt und auf »Bil­der« klickt, kommen immer die gleichen Ansichten heraus. Blau. Tunnel aus Nullen und Einsen, in die Personen hineingeso­gen wer­den. Männer mit Aktentaschen, die auf Charts und aufwärtsstre­bende Kurven zeigen. Gesichter, auf die Schalt­kreise aufge­druckt sind. Muskulöse Männer, die sehr schnell rennen, wobei sie eine Wolke von Zahlen hinter sich zie­hen. Und Hirne, die aus Chip-Schalt­krei­sen bestehen.

Künstliche Intelligenz eben. Auch das ist so ein Wort. Jeder glaubt, die Dring­lichkeit dieses Begriffes zu spüren, die unbedingte Logik, die damit verbun­den ist, dass »Com­puter immer intelligenter werden«. Demnächst werden Com­puter so intelli­gent sein, dass sie alles für uns erledigen. Sie ma­chen uns superklug, sexy, ra­send erfolg­reich, sie lösen die Umwelt­proble­me, sie machen uns gesund und irgendwann unsterblich. Ist doch logisch, oder?

Niklas Luhmann, der schrullige Systemphilosoph aus dem vergan­genen Jahrhun­dert, sprach ein­mal vom sogenannten »Kategorienirr­tum«. Ein Kategorien­irrtum ent­steht, wenn wir zwei Be­trach­tungs­ebenen miteinander kombi­nieren, die eigent­lich keine Verbin­dung haben. Als Beispiel nannte Luhmann einen Bauern, der Pell­kartoffeln anbauen will.

Enthüllte Nacktheiten
Künstliche Intelligenz ist genau das: Wir ver­wech­seln das Künst­liche mit der Intelli­genz. Intelligenz, so wie wir Menschen sie auf die Welt gebracht haben, besteht immer auch aus Gefühlen, In­stink­ten, Körperlichkeiten. Intelli­genz ist immer etwas GANZHEIT­LICHES, etwas, das das Bewusst­sein mit dem Körper, die Welt mit Be­deutung, das Sein mit dem anderen verbindet. Computer können das niemals haben, es sei denn, sie wären keine Com­puter mehr. Im künst­li­chen Begriff der künst­li­chen Intelligenz wird aber das genaue Gegen­teil suggeriert. Wir verstehen nur noch Pellkartof­fel.

Wohin geht die Digitalisierung wirklich? Was ist ihr wahres Anlie­gen? Das Leben komfortabel zu machen, darum soll es ja gehen. Und so brachte unlängst ein un­glaublich aufgeregter Sundar Pichai, Chef von Google, die neu­esten digitalen Wunder des Welt­konzerns auf eine Bühne in Ka­lifornien. »Smart Compose« zum Beispiel, eine Software, die jeden Satz, den man anfängt, auto­ma­tisch vervollstän­digt, inklusive Liebesbriefe und Beschim­pfun­gen. Oder die neue Sprachsoft­ware DUPLEX, die menschlich klingende Konversa­tio­nen be­werkstelligt und es auf der Bühne fertig­brachte, einen Termin mit einem Friseursalon abzuschließen.

Dass sich damit des Kaisers digi­tale Kleider endgültig als Nackt­heiten enthüllten, fiel in der allge­meinen Euphorie nicht auf. Zumal Pichai hinzu­fügte, dass man den Assis­tenten selbstver­ständlich als Maschinenstim­me AUSWEISEN würde – schon aus Datenschutz­gründen. Warum aber konstru­iert man dann Stimmen, die »Äähs« und »Oohs« simulieren, um sie gleich danach wieder als Roboter­stimmen auszuweisen? Das zeigt, in welche Paradoxie sich das Digi­tale heute verstrickt hat.

Digitale Technik ins menschliche Maß zurück­führen
Jede neue Technologie erzeugt in unseren Synap­sen – besonders in männ­lichen Hirnen – eine Dopa­min-Euphorie, die etwas mit Welt­bewäl­tigung, Macht und Kontrolle zu tun hat. Technik-Euphorie ist das ewige Jungens-Spiel der Mensch­heit. Ohne diese Eigen­schaft säßen wir heute noch in Höhlen. Ohne die nachfolgende abwä­gende Vernunft (die nicht selten weiblich ist) aber auch. Jede Technologie seit dem Faustkeil er­zeugt früher oder später Neben­wirkungen, Überfor­mungen und Probleme, die in der nächsten Welle korrigiert und integriert werden müssen. Genau an diesem Punkt sind wir heute: Es entsteht eine Schleife, eine Rekursion, in der wir die digitale Technik in die menschli­che Kultur, ins menschli­che Maß, zurückfüh­ren müssen.

Die Zukunft wird REAL-Digital: Der kanadische Autor David Sax hat in seinem Buch »Die Rache des Analo­gen« beschrieben, wie unbemerkt und geradezu hinter­rücks die analogen Dinge und Techniken zurück­kehren: Vinyl-Schallplatten boomen, Polaroid-Fotos erleben eine Renaissance. Füllfeder­halter und raues Papier, Biblio­theken und Bücher sterben nicht aus, sondern kommen auf neue Weise wieder. Das Handwerk findet neue Wege, die Vor­teile des Unikats und der stofflichen Sinn­lich­keit mit besseren Absatz­mög­lichkeiten zu kombinieren. Nicht die Abstraktion der Daten bringt die Dinge voran, sondern die kluge RE-Kombination des Dinglichen mit dem Digitalen.

Die Zukunft wird HUMAN-Digital: Gerade aus dem Silicon Valley selbst kommen heute die Radikal­kritiken an der digitalen Erlö­sungs­illusion. Es sind die Gründer von Facebook, Google und Co., die vehement ihre eigenen Schö­pfun­gen als unmensch­lich kritisieren. Jaron Lanier, der wichtigste Be­gründer der VR (Virtual Reality), fordert inzwischen auf, seine Social-Media-Accounts zu kündi­gen und die Konzerne zu neuen ethischen Ent­schei­dun­gen zu zwingen. Eine Welle des heilsa­men digitalen Skeptizi­smus breitet sich aus, unter der Devise: Wir können es auch besser!

Das Unnötige und Perverse des Digitalen verstehen
Wir lernen, ONLINE zu sein: Jeder von uns ist irgendwann einmal durch jenes Tal aus Verwir­rung und Über­fütterung gegangen, in dem die Über­macht des Digitalen uns in ständig abge­lenkte Reiz-Reaktions-Maschi­nen verwandelt. Jeder von uns kennt heute Men­schen, die lang­sam lernen, ihre persönliche Welt aus Bezie­hungen und Medien zu ordnen und in ein Gleich­gewicht zu bringen. Wir lernen allmählich, die digitalen Suchtmittel zu beher­rschen. ONline eben – Achtsamkeit im Umgang mit Aufmerk­sam­keiten.

»Soziale Medien funktionieren dann, wenn sie auf realen menschlichen Beziehungen basieren – nicht auf Klick- und Like-Illusionen.«

Im Grunde ist es einfach: Digitale Technik er­mög­licht neue VERBIN­DUNGS­FORMEN von Prozessen, Informa­tionen – und Menschen. Das führt in der industriellen Pro­duktion zu einer VERDICH­TUNG von Arbeitsprozes­sen, in der Pro­duktivität und Differenzierung auf neue Weise gesteigert werden können, ohne dabei Men­schen als Teile maschineller Prozesse zu funktionalisieren. Das ist eine Befreiung, ein emanzi­patorisches Potenzial! Illusionär aber ist es, menschliche Beziehungen durch Digi­ta­lität ERSETZEN zu wollen. Das führt zu parasitären Strate­gien, zu Ausbeu­tungs- und Mani­pu­lations-Formen, die früher oder später Schiffbruch erleiden müs­sen.

Soziale Medien funktionieren dann, wenn sie auf realen mensch­lichen Bezie­hungen basieren – nicht auf Klick- und Like-Illusio­nen. Digitale Stra­tegien in den Unterneh­men funktionieren dann, wenn sie neue Zugänge und Ver­bin­dungen er­mög­lichen. Den Kunden, den Mitarbeitern, neue Tools in die Hand zu geben, sie zu EMPO­WERN, ist etwas anderes, als Kontakte und Kommuni­katio­nen durch automatisierte Funk­tio­nen zu ersetzen. Das ist die wahre Zu­kunfts-Kunst: das Unnötige und Perverse des Digitalen zu verste­hen, um das Erhabene und Er­leuch­tete an der digitalen Revo­lu­tion zu realisieren.

 

MATTHIAS HORX ist einer der ein­flussreichsten Trend- und Zu­kunfts­forscher im deutschspra­chi­gen Raum. Der ehemalige Jour­na­list gründete zur Jahr­tau­send­wen­de das »Zu­kunftsinstitut«, das heute zahlreiche Unterneh­men und Institutionen internatio­nal zu Trendfragen berät.

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